T. Zumhof u.a. (Hrsg.): Herwig Blankertz und die pädagogische Historiografie

Cover
Titel
Herwig Blankertz und die pädagogische Historiografie.


Herausgeber
Zumhof, Tim; Oberdorf, Andreas
Erschienen
Münster 2022: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Philipp Gonon, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Für die Re-Formierung der Erziehungswissenschaft als akademische Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg spielte seit den 1960er-Jahren Herwig Blankertz (1927–1983) eine wichtige und aus heutiger Sicht kaum zu überschätzende Rolle. Nicht nur hat er die „realistische Wendung” von einer geisteswissenschaftlichen Tradition hin zu einer sozialwissenschaftlichen Ausrichtung mitgetragen und darüber hinaus sich auch zwischen 1974 und 1978 als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) engagiert, sondern er war selbst, an der Universität Münster lehrend, in der Schulreform in Nordrhein-Westfalen ein entscheidender Gestalter. Hierbei vertrat er eine Position, die auf Versöhnung und Integration von berufsbildender und allgemeinbildender Ausrichtung setzte.

Mit (Berufs-)Bildung, Bildungsreform und Historiographie befasste er sich bereits in seiner 1963 erstmals publizierten Habilitation „Berufsbildung und Utilitarismus”, später dann ebenso in „Bildung im Zeitalter der grossen Industrie” (1969 veröffentlicht).1 Seine historisch-ideengeschichtliche Rekonstruktion ist aufschlussreich (und lesenswert), bringt er doch „klassische” Bildungskonzepte mit institutionellem Wandel, ökonomisch-technischer Modernisierung und gesellschaftlicher Emanzipation zusammen. Sie bilden nach wie vor eine starke Referenz für die berufs- und wirtschaftspädagogische Historiografie. Bis heute bedeutsam ist daher das hierzu formulierte Diktum „Bildung im Medium des Berufes”, das auch als Legitimationsfolie für diese Engführung von Beruf und Reformen im Bildungssystem dient.

Wie kommt aber nun Herwig Blankertz dazu, eine oder gar „die Geschichte der Pädagogik” zu verfassen? Sie ist entstanden aus einem Studienbrief für die Fern-Universität Hagen, und wird im Vorwort als „Versuch” bezeichnet, „einen Zusammenhang zwischen der Geschichte pädagogischer Theorien, der Schule, der Bildung und des sozialen Systems der Erziehung in möglichst einfachen Strukturen vorzustellen”.2

Auf die Diskussion dieser Zielsetzung und die Begleitumstände der Entstehung, sowie auf das Gelingen eines solchen Unterfangens ist der vorliegende Sammelband ausgerichtet, der im Anschluss an einem virtuell gestalteten Workshop im Frühjahr 2021 entstand. Fokussiert wird tatsächlich mit wenigen Ausnahmen auf diese 1982 veröffentlichte „Geschichte”, untertitelt mit „Von der Aufklärung bis zur Gegenwart”. Insgesamt 16 Beiträge und eine Einleitung der Herausgeber, verfasst von damaligen Mitstreiter:innen und Kolleg:innen von Blankertz, ehemaligen Assistierenden, heute etablierteren historischen Bildungsforscher:innen, wie ebenso Vertreter:innen einer jüngeren erziehungswissenschaftlichen Historiografie sind in dieser Veröffentlichung versammelt.

Während einige Stellungnahmen eher kurz gefasst sind und auf die in Buchform publizierten Texte und teilweise auch auf persönlich erinnerten Begegnungen mit dem Verfasser der „Geschichte” beruhen, stützen sich andere Beiträge auf den neu erschlossenen Nachlass von Herwig Blankertz, in welchem neben unveröffentlichten Texten, Vortragstyposkripten und Entwürfen seine Korrespondenz Eingang gefunden hat.

Die vorliegende Veröffentlichung wird durch einen sehr informativen Artikel vom Mitherausgeber Andreas Oberdorf eingeleitet, der die Entstehung der Blankertz’schen „Geschichte der Pädagogik” anhand des Nachlasses rekonstruiert. Im Rückblick wird ersichtlich, dass diese Veröffentlichung als bedeutsam für die Disziplin wie ebenso als Nachschlagewerk für das Pädagogik-Studium erachtet wurde. Sie wird – so halten es die beiden Herausgeber fest – als Ideen- und Sozialgeschichte integrierende pädagogische Erzählung konstituiert, die sich gegenüber einer lediglich struktursoziologischen Herangehensweise und gegenüber älteren pädagogischen Geschichtsschreibungen profiliert, deren Verdienste durchaus anerkannt werden. Das Fazit des gesamten Bandes, basierend auf einer „Re-Lektüre” (S. 13), fällt insgesamt und man könnte durchaus sagen – erfreulicherweise – recht kritisch aus.

Bereits die Betitelung „die Geschichte” wird in mehreren Beiträgen in Frage gestellt, da es sich doch um eine Selektion bestimmter im deutschsprachigen Raum kursierender dominanter Theorien oder Rezeptionen aus anderen Kontexten handelt: von Verfassern pädagogischer Schriften wie J.H. Comenius über J.-J. Rousseau, W. v. Humboldt, J.H. Pestalozzi und J.F. Herbart bis hin zu Autoren, die eher ausserhalb der Pädagogik wahrgenommen wurden, wie F.D. Schleiermacher, G.F.W. Hegel und K. Marx. Ergänzt und abgerundet wird seine Perspektive durch eine Engführung der Konzepte mit einer jeweils zeitgleichen institutionellen Schulreform und einer abschliessenden Darstellung der Entwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik. Passender wäre – so das Monitum – eine Betitelung gewesen, die ein „Auch” davor setzt, wie dies kürzlich ja Jürgen Habermas für seine historische Darstellung der Philosophie im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen vormachte.3

Die Blankertz’sche Geschichte beginnt im Vergleich zu anderen pädagogischen Historien sehr spät, insbesondere unter Ausklammerung der Antike, Renaissance und Reformation, die in früheren Werken (so bereits bei Friedrich Paulsen oder jüngeren Datums bei Albert Reble u.a.) nicht fehlen durften. „Die” Geschichte ist – so auch in Blankertz' bilanzierenden Worten – „unvollendet”. Und tatsächlich, Leerstellen werden von den verschiedenen Beiträger:innen gar viele ausgemacht: die lediglich gestreifte sozialistische Pädagogik ebenso wie die kaum vertretenen aktuelleren reformpädagogisch alternativ geprägten Ansätze oder die sogenannte Anti-Pädagogik. Kaum adäquat dargestellt und interpretiert ist der vom Pietismus geprägte Reformimpuls. Die Blankertz’sche Geschichtsschreibung verlasse sich insgesamt mehr auf die Überzeugungskraft als auf technisch sorgfältige historische Arbeit, wie – etwas harsch – Peter Menck darauf Bezug nehmend festhält (S. 73 und S. 77). Auch seine Humboldt-Interpretation sei – wie Ingrid Lohmann aufgrund eines weiter einbezogenen schulgeschichtlichen Kontextes für diesen Band erarbeitet – insgesamt zu wenig differenziert ausgefallen und habe die damaligen sehr engen Reformspielräume zu wenig deutlich wahrgenommen (S. 216).

Seiner auf Komplexitätsreduktion beruhenden konzisen Darstellung, nämlich Aufklärung vorwiegend als Institutionalisierungsproblem von Erziehung zu fassen, wird aber – in den groben Linien – durchaus Plausibilität bescheinigt. Blankertz beharrte mit seiner Geschichte, die als Antwort auf grosse bildungstheoretische Entwürfe einerseits und auf eine zu einseitig auf Repression dargestellte „schwarze” Pädagogik zu lesen ist – auf einer pädagogisch verpflichteten historischen und auf Emanzipation ausgerichteten Perspektive „entlang der Notwendigkeit veränderter Bildungsverhältnisse” (Rahel Hünig, S. 146).

Die erzählende Geschichte der Pädagogik ist hierbei – den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung aufkommenden theoretischen und bildungspolitischen Verunsicherungen innerhalb der pädagogischen Zunft zum Trotz – auf eine narrativ angelegte bessere Zukunft ausgerichtet (so Bernhard Hemetsberger S. 89). Das wahrgenommene Ende des Fortschritts habe nun – so Sabine Reh – neben Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung dann als weitere Deutungskategorie die „Sinnkrise” ins Spiel gebracht (S. 118). Ihr analytischer Einbezug des umfangreichen Schriftverkehrs von Blankertz weist darauf hin, dass eine immer stärker auch kontrovers geführte Auseinandersetzung mit den pädagogischen Kolleginnen und der bildungspolitisch ins Stocken geratenen Reform der Kollegstufe in Nordrhein-Westfalen auch zum Erliegen des narrativen Grundmotivs führte. Die Idee einer pädagogischen Eigengesetzlichkeit wurde von ihm nicht mehr ausschliesslich als zukunftsnahe Realität erzählt, sondern lediglich als eine kondensierte Leitidee präsentiert (S. 129).

Tatsächlich ist es ein Leichtes, Verkürzungen, Fehlinterpretationen und blinde Flecken und darüber hinaus zeitbedingt unterbelichtete Aspekte auszumachen. Hervorzuheben ist, dass diese Veröffentlichung primär didaktisch-pädagogischen Zwecken für Studienanfänger:innen verpflichtet war. Die für die disziplinäre Selbstvergewisserung von ihm in Stellung gebrachte „Eigenstruktur der Erziehung sollte hierbei narrativ aus der europäischen Bildungstradition” (vgl. Tim Zumhof, S. 205) – „mit Rousseau als Dreh- und Angelpunkt” (so Peter Menck, S. 71) – herausgearbeitet werden, was durchaus gewisse Unschärfen und Auslassungen zur Folge hatte. Gefragt werden kann ebenso, ob dieser Anspruch „in didaktischer Absicht” Geschichte zu erzählen (Ulrich Herrmann) und hierbei Idee- und Sozialgeschichte, beziehungsweise geisteswissenschaftliche Positionen und kritische Theorie zusammenzuführen, einfach schlicht zu viel des Guten war. Darüber hinaus könnte man auch argumentieren, dass dieses Übersichtswerk in historiographischer Hinsicht nicht das stärkste von Blankertz war, da es, anders als in seinen berufspädagogisch geprägten Veröffentlichungen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontexte eher ausblendete, so zumindest liesse sich auch Günter Kutschas Beitrag (S. 61ff.) lesen.

Geschichte als Beitrag zur konstitutiven Begründung eines Faches, als Profilierung einer universitären Disziplin ist so gesehen ein prekäres Unterfangen und – das macht dieser Band deutlich – ist selbst abhängig von kontextuellen Bedingungen. Es wird auch immer damit Disziplinpolitik gemacht.

Insofern ist die vorliegende Veröffentlichung eine hervorragende Gelegenheit, reflexiv über die Rolle der Geschichtsschreibung für eine Disziplin sich zu vertiefen. Schön wäre es gewesen, wenn die Herausgeber auch noch einen Beitrag eingeholt hätten, der die Rezeptionsgeschichte der Blankertz’schen „Geschichte” beleuchtet hätte, insbesondere ob die Studierenden von damals bis heute und die Erziehungswissenschaft selbst sich nach wie vor auf dieses Werk beziehen wollen und können.

Anmerkungen:
1 Herwig Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersuchungen, Weinheim 1985 (1. Aufl.1963); Herwig Blankertz, Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule und Berufsbildung im 19. Jahrhundert, Hannover 1969.
2 Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Münster 1982, hier S. 11.
3 Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Frankfurt 2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension